KOLUMEN
GEBRANNTES KIND SCHÜRT FEUER
In einer Zeit, in der es leichter ist, den Überblick zu verlieren als zu gewinnen, wird es täglich wichtiger, sich innerlich gut aufzustellen und das wirklich Wichtige in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit und unseres Strebens zu stellen. Solange wir es zulassen, dass wir in einer permanenten Nachrichtenflut ertrinken, vergessen wir zunehmend, wie gut wir schwimmen können; und wir vergessen, dass wir uns nicht ununterbrochen dem Wasser aussetzen müssen, sondern dass es Strände gibt, an denen wir ausruhen und festes Land, auf dem wir wohnen können. Im übertragenen Sinne meine ich damit Folgendes:
Wir, (die Gesellschaft, die allmählich und nicht nur im konfessionellen Sinne ihren Glauben verliert), vergessen die höheren Ziele, die wir uns als Gemeinschaft im Geiste und im Herzen setzen wollten. Wir wollten Geist und Liebe als Maßstab unseres Fühlens, Denkens und Handelns setzen, und dies nicht nur, um zu überleben, sondern um Schönes, Haltbares und Lebenswertes für uns, unsere Kinder und Kindeskinder zu erschaffen. Wir, das demokratische Europa, das Gewissen der Welt, sozial und empathisch, noch einigermaßen gebildet und (noch) wissenschaftlich und wirtschaftlich mit großen Ressourcen versehen, demontieren uns indes im Angesicht der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen nach und nach durch Klagen und Ängste, Verzweiflung und gegenseitige Beschuldigungen.
Um Information nicht als Vergiftungsmechanismus, sondern als Segen der Menschheit zu begreifen und nutzen, sollten wir jeden Morgen mit dem Gedanken aufwachen: „Wie kann ich meinen Tag heute noch besser gestalten?“ Das meint: Noch positiver, anpackender, herzlicher, lösungsorientierter, geistreicher! Wir sind Teil einer großen Gruppe. Jeder von uns besitzt ein Gehirn, das in seiner Einzigartigkeit in Bezug auf Auswertung, Aktions-/Reaktionsfähigkeit und kluger Verstrickung sachlicher mit emotionalen Daten jeder technischen Nachahmung überlegen ist! Es besteht kein Grund zu verzweifeln, auch dann nicht, wenn Klimakatastrophen, Handels- und sonstige Kriege, aus Asien herüberlächelnde künstliche Intelligenzen, Völkerwanderungen und neue Epidemien drohen.
Unsere menschliche Stärke, unsere höchste und vornehmste Aufgabe liegt im Ergreifen und Leben des Jetzt! Wir sollen dort optimal handeln, wo wir stehen und gehen. Dazu brauchen wir einen freien, reifen Geist und ein freies, reifes Herz. Reif sind Herz und Verstand, wenn sie im Sinne der Liebe sozial und weitsichtig agieren, wenn sie die Interessen aller begreifen und in Bezug setzen können und wollen, wenn nicht einzelne ihren Vorteil auf Kosten der Mehrheit suchen, wenn Geld und Gut nicht höher bewertet wird als Gemeinwohl. Man nennt dies das Gesetz des gesunden Menschenverstandes, denn der eine kann nicht ohne den anderen.
Wir brauchen dazu vor allem eine heile Umwelt. Verschmutzen wir unseren Planeten, vernichten und neutralisieren wir das Erbgut von Pflanzen, rauben wir den Wäldern, Bergen, Ebenen und Wassern samt Tieren die Grundlage, stehen wir bald selber vor dem Nichts. Wir müssen unsere Kräfte bündeln statt sie in hoffnungslosen Diskussions- und Angstnebeln verpuffen zu lassen. Jeder einzelne von uns sollte so lösungsorientiert wie möglich denken. Die Frage lautet: „Was kann ich dazu beitragen, dass jeder meiner Tage im Sinne der Gemeinschaft so gut wie möglich von mir verlebt wird?“
Jeder kann üben, auf kleine und große menschliche Kriege (Streit, Hass, Neid, Intrigen, vorsätzliche Behinderungen, Egoismus etc.) und giftige Überflüssigkeiten (Putzmittel, Pestizide, Insektizide, unnötige Autofahrten etc.) zu verzichten. Bildung muss ganz oben auf der Agenda stehen! Nur gebildete Völker haben eine Zukunft! Es reicht nicht, zu „googeln“! Unser Gehirn braucht echtes Wissen, um es in Verbindung mit unserer überlegenen Intuition und Kreativität zur Problemlösung und Erhaltung unseres irdischen Lebensraumes sowohl einspeisen als auch nutzen zu können!
Wir sind nicht wehrlos! Neulich sagte mir eine Frau aus Versehen: „Nein, das mach’ ich nicht mehr - gebranntes Kind schürt Feuer.“ Ich antwortete lachend, das wolle ich doch nicht hoffen; aber hinterher dachte ich bei mir: Das ist genau das, was wir im Begriff stehen zu tun. Nach so vielen Kriegen auf europäischem Boden haben wir unser Friedensglück noch immer nicht begriffen und zündeln wie verzogene Kinder, die nicht mehr dazulernen wollen, an unserer Zukunft herum. Das gebrannte Kind sollte das Feuer schleunigst wieder scheuen lernen.
SCHULE - EIN HORT DES WAHNSINNS
Ich verstehe die Schulpolitik weniger denn je. Das für meine Begriffe sehr kluge und gut durchdachte System der dreigliedrigen Schulbildung mit Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien samt Berufsschulen, Abendschulen, Sonderschulen, Förderschulen etc. wurde nach und nach durch die Politik ausgehöhlt. Es wurde uns eingeredet, das System sei ungerecht und alle Kinder müssten aufs Gymnasium gehen „dürfen.“ Die armen Kinder werden zum Teil gar nicht nach ihrem Willen gefragt und sollen es „wenigstens“ versuchen, wobei ein Scheitern immer mit Gesichtsverlust einhergeht. Vor allem dem Gesichtsverlust der Eltern, denn die Kinder sind einfach Kinder und denken sich nichts dabei. Und so quälen sich immer mehr Überforderte durch die Schuljahre, entwickeln Komplexe, Ängste, Wut und stehen unter Dauerdruck.
Die Verherrlichung des Abiturs hat dazu geführt, dass die anderen Schulformen ausbluteten; deshalb und wegen allgemein sinkender Schülerzahlen kann man sie jetzt auch so gut schlachten. Viele Betriebe beklagen inzwischen den kompetenten Lehrlingsmangel, weil alles andere als Studieren heutzutage ebenfalls mit Versagen gleichgesetzt wird. Ohne Abitur scheint man nur noch ein halber bis ein viertel Mensch zu sein.
Schulleiter und Schulleiterinnen beklagen weiterhin die Vorschriftenflut, die ihnen die Zeit zum Unterrichten nimmt und sie immer wieder neu an den Schreibtisch zwingen. Um nur zwei der letzten Schnellschüsse in der Schulpolitik herauszugreifen: G 8 und Inklusion.
Durch den überstürzten Wegfall eines Schuljahres gerieten die Schulkinder an den Gymnasien unter unnötigen Druck. Der Übergang von der Grundschule in die fünfte Klasse glich einem Wurf ins kalte Wasser der sogenannten „Realität.“ Wenn es um die Erklärung der Realität des täglichen Lebens samt Bildung und Arbeitswelt geht, kühlt sich die Raumtemperatur gleich um mehrere Grad ab. Die Realität ist hart, sie schenkt dir nichts und wenn du dich nicht durchsetzen kannst, sackst du sofort ab, bist „unten durch“ und als Versager abgeschrieben. Von welcher Realität sprechen wir da eigentlich? Sind wir Zuchtroboter für die Wirtschaft? Sollte nicht das, was wir später beruflich ausüben wollen, der Gemeinschaft dienen, sie sozialer, wärmer, zuverlässiger machen? Sollten wir durch unseren Beitrag nicht auch für mehr Kreativität, Spontanität und Lebensqualität sorgen? Wer will denn die „harte“ Realität überhaupt haben? Wenn wir auf die sogenannten Entwicklungsländer schauen (wobei Entwicklung oft für Industrialisierung, Ausbeutung und noch mehr soziale Kälte steht), dann ist unser Alltag vergleichsweise weich und warm. Absolut gesehen aber hetzen wir durchs Leben und von einem Termin zum anderen und kommen oft nicht dazu, uns über unseren Wohlstand zu freuen, empfinden ihn gar als Leer- oder „Schlechtstand.“
Die Kinder werden nun also angetrieben, schneller und effektiver zu lernen, eher fertig zu werden und auf den Arbeitsmarkt zu drängen, der sie vielleicht gar nicht unterbringen kann. Schnell, schnell lautet die Devise unserer Zeit. Die arme Zeit – sie kann ja gar nichts dafür, dass wir sie so beuteln und strapazieren und vollstopfen, bis sie platzt! Wir sollten sie stattdessen zusammen mit unseren Kindern pflegen und hätscheln, ihr mehr Beachtung schenken, sie genießen. Aber das haben wir verlernt und können es auch nicht mehr in der Schule nachholen, weil es dort ja inzwischen genauso hektisch zugeht wie im Alltag.
Nach dem G 8-Coup kam die Inklusion. Die Kommunen wurden bei ihrer erzwungen überstürzten Umsetzung „in die Pflicht“ genommen, was bedeutete, dass die Landesregierung die Kosten für die Umstellung nicht vollständig zu übernehmen bereit war. Aber selbst mit der Kostenübernahme konnten keine Fachkräfte aus dem Boden gestampft werden, die den Umgang mit Behinderten erlernt haben. Diese Fachkräfte muss man nämlich ausbilden, wie man schon der Bezeichnung entnehmen kann. Mit ein wenig Zeit natürlich. Die ja jetzt keiner mehr hat, weil alles schon läuft.
Die Kinder mit Behinderungen, die bisher in kleinen Gruppen von erfahrenen Kräften begleitet wurden, müssen sich nun also in großen Klassenverbänden durchschlagen. „Das ist ihr Recht!“, wird gesagt. Aber vielleicht ist es für sie gar nicht schön, das tun zu müssen. Sie werden täglich feststellen, dass sie weniger können, langsamer sind und dort Hilfe brauchen, wo die anderen Kinder ohne Behinderungen sie nicht brauchen. Sie werden womöglich Minderwertigkeitskomplexe entwickeln, Schuldgefühle oder Aggressionen. Die Lehrer, die keineswegs für diese Situation ausgebildet sind und sich nicht plötzlich verdoppeln und verdreifachen können, aber keine Zusatzkräfte bekommen, weil es die ja eben noch nicht gibt, sind hoffnungslos überfordert. Diejenigen, die jetzt neben ihren Unterrichtsstunden eine Zusatzausbildung durchlaufen, klagen über Praxisferne der ebenfalls überforderten Ausbilder, die auch nicht darauf vorbereitet waren, derartig viele Neue durchschleusen zu müssen. Die Pädagogen, die sowieso schon gebeutelt sind durch ständig sich ändernde Vorschriften, müssen Bildung vermitteln und therapieren und sozialisieren und disziplinieren, letzteres vor allem auf die Ruhe in den Klassen bezogen, die schon lange kaum noch herzustellen ist. Opfert die Politik unsere Lehrer auf dem Altar ihrer Profilierungssucht?
Wie man Kindern beibringt, auf körperlich und geistig Behinderte zuzugehen (wobei man ihnen das gar nicht beibringen muss, weil sie es ganz spontan von selber tun), zeigt uns beispielsweise die enge Freundschaft der Montessori-Schule in Bocholt mit der Bischof-Ketteler-Schule. Dort entstehen durch regelmäßige Besuche enge Bindungen, man ist begeistert voneinander, und nicht selten absolvieren die Montessori-Kinder später ihr Praktikum in der privaten Förderschule, in der laut Schul-Homepage in diesem Schuljahr 143 Schülerinnen und Schüler unterrichtet wurden. Sie werden von derzeit 38 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet, die von Fachkräften aus Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie, Integrationshelfern, zwei Pflegekräften, zwei Bundesfreiwilligendienstlern und Praktikanten verschiedener pädagogischer oder sozialer Ausbildungen und Fachrichtungen unterstützt werden. Das können die anderen Schulen gar nicht leisten!
Und nun die frohe Botschaft! Wir jubeln! Milliarden Euro werden für das digitale Lernen ausgegeben! Noch mehr Technik, noch mehr Abhängigkeit vom Netz, noch weniger echte Bildung, die von Mensch zu Mensch weitergegeben wird!
Was ist los mit unserer Gesellschaft? Schaffen wir es nicht mehr, unseren Kindern eine fundierte Bildung in einem ruhigen, gut ausgestatteten Rahmen zu garantieren? Warum degradieren wir sie zu Versuchskaninchen in einem überdrehten, politisch-pädagogischen Experimentier-Karussell? Programmieren wir dadurch nicht schon den gesellschaftlichen Kollaps? Den Burn-Out bei Lehrern nehmen wir offensichtlich schweigend hin. Und wie werden wir auf den Burn-Out unserer Kinder reagieren?
HEUTE SCHON KOMMUNIZIERT?
Vom Segen und Fluch moderner Verständigung
Ich beginne diese Kolumne mit einer interessanten Streitfrage. Sie kennen mich vielleicht inzwischen schon soweit, dass Sie wissen, wie gerne ich spiele. Also hiermit meine Spielfrage: Wie wäre es, wenn man jedem Baby bei der Geburt ein Handy aushändigen würde? Ich gebe zu: Ein ungewöhnlicher Ansatz, der eine flexible Herangehensweise erfordert. Dafür spräche, dass das Baby sofort mit der Kommunikation anfangen und später in der Schule besser Position beziehen könnte, wenn es um Umweltpolitik geht oder um Abtreibung. Man kann nicht früh genug damit anfangen, seine Meinung zu kommunizieren. Am Anfang war das Wort – das steht schon in der Bibel! Man könnte folglich Babyhandy-Tastenkurse einrichten statt die armen Kinder dabei zu beobachten, wie sie sich mühsam und auf konventionelle Art ihr Umfeld erobern und an ihren Sprechwerkzeugen herumdoktern, bis der Arzt kommt. Sie wären von Anfang an auf die Globalisierung ausgerichtet und würden vielleicht endlich (wenigstens ein Baby unter all den Milliarden) eine Kommunikationsmöglichkeit mit Außerirdischen erfinden. Die uns dann Tipps geben würden, wie man den Euro und unsere Merkel bis in alle Ewigkeiten konserviert. Gegen die Idee spräche, dass man jemanden finden müsste, der das bezahlt. Aber der findet sich schon. Die Erfahrung sagt: Alles findet sich irgendwie und irgendwann. Dies zum philosophischen Teil der Kolumne.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich mag Handys wirklich gerne. Ich fühle mich nackt, wenn ich es zu Hause vergessen habe. Und ich streichle es täglich im Bewusstsein, dass mein Leben ohne es so leer wäre. Ich hätte einfach viel zu wenig Möglichkeiten zu kommunizieren stünde mir nicht dieses kleine leuchtende Stromfresserchen zur Verfügung. Sehen Sie: Jetzt verstehen Sie mich richtig. Mein allumfassende Liebe erstreckt sich auch auf mein elektronisches Umfeld.
Lassen Sie mich kurz nachdenken... Oder liebe ich mein Handy doch nicht so, wie ich glaube? Mein Leben hat sich nämlich in einer Weise beschleunigt, dass ich immer zu wenig Zeit zu haben scheine. Seitdem ich jetzt sogar Mails empfangen kann, wenn ich am Käsestand stehe und mich dabei beobachte, wie ich regelrecht unwillig reagiere, wenn ich drankomme, bevor ich meine Antworten versandt habe, stehe ich gewissermaßen ständig unter Druck. Wie? Ich habe innerhalb der nächsten 20 Sekunden noch nicht geantwortet? Bin ich krank? Oder vergesslich? Oder – noch schlimmer – unsozial bis unkommunikativ? Also bemühe ich mich um eine zeitnahe Reaktion, die eine zeitnahe Reaktion des Gesprächspartners bewirkt, der auch weder krank, noch vergesslich bis unsozial sein will. Die Gesprächsfetzen zischen durch die Luft wie wild gewordene Flughörnchen und erhöhen den kollektiven Blutdruck dermaßen, dass die Ärzte in absehbarer Zeit ein Handyverbot aussprechen werden. Ich bin mir dessen ganz sicher.
Aber wir sind ja gerne von irgendetwas abhängig. Und ich beschwere mich auch nicht wirklich. Mein Handy ist absolut handzahm. Es kann Dinge, die ich nicht kann. Es bringt mich zum Lachen, wenn es sich verselbständigt (was meinen Kindern nie passiert) und zum Weinen, wenn es abstürzt. Nein, ich untertreibe – nicht zum Weinen, es stürzt mich in abgrundtiefe Verzweiflung, denn ich kann dann ja nicht mehr zeitnah kommunizieren. Was sollen die Leute von mir denken? Ich könnte natürlich ein echtes, personelles Gegenüber als Ersatz wählen. Dafür müsste ich allerdings den Mund aufmachen und ein Mindestmaß an Mimik und Gestik aktivieren. Ich kann das wohl noch, auch wenn die Mundwinkel ein wenig eingerostet sind. Aber – seien Sie ehrlich – es kostet schon viel mehr Kraft zu lächeln als ein Smiley zu verschicken. Und HDL geht eindeutig leichter als jemandem ins Gesicht zu sagen: „Hab dich lieb.“ Was soll die oder der von mir denken? Man könnte es falsch verstehen.
Deshalb liebe ich mein Handy so sehr: Es gibt keine Missverständnisse mehr. Und wenn doch, dann hat man jede Menge Zeit sie zu bereinigen. Man kann bei einer Verabredung zum Latte Macchiato an die tausend Sms verschicken, um Missverständnisse zu klären oder jemanden zu mögen oder das Gegenteil davon. Voraussetzung ist natürlich der Verzicht auf direkte Kommunikation mit dem Gegenüber, mit dem man sich verabredet hat. Dieses Gegenüber hat aber meistens ebenfalls ein Handy und beschäftigt sich damit, Missverständnisse zu klären oder zu schaffen. Soweit ist alles in Ordnung.
Statistisch gesehen (das heißt: ich habe mit einer Kellnerin gesprochen) kommunizieren viele Menschen sowieso nicht mehr direkt. Sie sitzen im Café, bestellen immerhin noch mündlich, schütten Zucker in ihren Latte, rühren um und ... schweigen. Sie schweigen nicht nur sich gegenseitig, sondern ihr gesamtes Umfeld an, während an den Nebentischen eifrig gesimst wird. Ein interessanter Tatbestand, der auf eines hinweist, auf das eine, auf das wir immer schon stolz waren und stolz sein werden: Wir sind und bleiben das Volk der Dichter (was die Schreibbegeisterung angeht) und der Denker (indem wir unseren Tag intelligent in die Segmente: Schreiben und Nichtschreiben einteilen).
Was wir sonst noch so machen, könnte uns ein Außerirdischer fragen? Ich nehme sofort dazu Stellung, aber auf meinem Handy ist eben eine Sms eingegangen, die ich unbedingt jetzt sofort beantworten muss. Damit ich nicht krank oder unsozial rüberkomme.
WENN DIE KINDER NICHT PFLEGEN
„Sehr geehrte Damen und Herren, ich beziehe mich auf die Seite „Gesellschaft“ Ihrer Zeitung und hätte einen Themenwunsch...: Kontaktabbruch älterer Kinder zu ihren Eltern. Eltern, die immer für ihre Kinder da waren, werden in Zeiten, wo sie sich nach ein bisschen Familienanschluss und Beistand im Alter sehnen, verachtet und ausgegrenzt, oftmals gerade dann, wenn sie durch Krankheit oder den Verlust des Ehepartners plötzlich ganz alleine dastehen und hilflos vorgeschobenen Schuldzuweisungen ausgesetzt werden...“
Ja, das ist leider die traurige Wahrheit. Oft sitzen die Alten in den Heimen, werden nicht von ihren Angehörigen besucht und verkümmern trotz der oft liebevollen Pflege der oft überforderten Betreuer. Und leider ist es so, dass die Politik noch nicht reagiert hat, den Pflegeberuf noch viel höher im gesellschaftlichen Respekts- und Vergütungsbereich anzusetzen. Da unsere Gesellschaft momentan rasant älter wird, stellt sich die Frage immer mehr hilfsbedürftigen Senioren und deren Nachkommen, die häufig berufstätig sind und nicht das leisten können, was ehemalige Großfamilien in großer Selbstverständlichkeit leisteten, auch wenn dies nicht immer konfliktfrei ablief. Aber es gab und gibt immer noch viele Angehörige, die sich um das Wohl der Eltern kümmern und ihnen das Alter so angenehm wie möglich gestalten wollen.
Die Gründe, warum Kinder ihre Eltern überhaupt nicht pflegen wollen, sind vielfältiger Natur. Familienzwiste und plötzliche Abwendungen hat es, wie gesagt, immer gegeben. Das hängt einerseits mit der Natur des jeweiligen Menschen zusammen, nämlich damit, ob sie/er herzlich und verantwortungsvoll aufgestellt ist oder doch eher egozentrisch und auf das eigene gesellschaftliche und finanzielle Fortkommen bedacht. Es kann auch mit Erziehungsfehlern auf Elternseite zusammenhängen, die meistens nicht absichtlich gemacht werden, sondern aus Gewohnheit geschehen sind. Denn der erzogene und geprägte Mensch neigt dazu, das zu wiederholen, was man ihm vorlebte und teilweise „einbläute.“
Die große Mehrheit der Eltern möchte natürlich das Beste für die Kinder bereitstellen. Dieses Beste der „weisen Alten“ ist ihre Lebenserfahrung. Die einen haben eher gute Erfahrungen gemacht. Die Familie hielt zusammen, es herrschte ein liebe- und respektvoller Umgangston, man konnte einander vertrauen, alles wurde miteinander besprochen, die Wärme der Familie ließ die Herzen offenbleiben, was auch in Notzeiten galt. Bestimmend war also ein optimistischer Umgang mit den vielfältigen, nicht immer positiven Lebenssituationen, mit denen aber lösungsorientiert umgegangen wurde, wobei die Pflege der Alten und Sicherstellung ihres Alterswohlbefindens ein selbstverständlicher Vorgang war. Die anderen haben eher schlechte Erfahrungen gemacht. Die Familie hielt nicht zusammen, es gab Konflikte, die von einem eher respektlosen Ton getragen wurden, es wurde körperlich gezüchtigt, Gehorsam und Unterwerfung galten als Tugend, Originalität und Freiheitssinn als Fehler. Die Ansprüche waren immer zu hochgesteckt und die Ziele unerreichbar. Lob „hagelte“ es selten, Tadel und Kritik dagegen im Übermaß: Dies bewirkte Kritik an den Eltern, Schuldvorwürfe und Verletzungen auf beiden Seiten und im Folgenden die zürnende Abwendung der Kinder.
Meistens kommt in den Familien eine Mischung aus beidem vor, positiv und negativ, wobei die Liebe immer das erste tiefe Gefühl ist, das sich verflüchtigt, da echte Liebe sehr sensibel und verletzlich ist und nur eine gewisse Anzahl von Schlägen und Rückschlägen ertragen kann. Zugleich, und da wir in dieser verrückt-bipolaren, sich selbst widersprechenden Welt leben, ist echte Liebe die stärkste Kraft, die sich überhaupt denken und fühlen lässt.
Da Erziehung und Prägung uns bestimmen, seit wir auf der Erde sind, ist es ausschlaggebend, was unsere Eltern uns vorleben; es gleicht meistens dem, was die Eltern unserer Eltern ihnen vorgelebt haben. Modern interpretiert könnte man sagen: Mutter und Vater sind unser Navigationsgerät. Die ersten Fragen können also lauten: Wie gestaltete sich der Umgang meiner Eltern mit ihren Eltern? Wie gestaltete sich unser Umgang mit unseren Kindern? Welche Weisheiten und welche Fehler haben wir unbewusst wiederholt? Welche Details aus unserer gemeinsamen Vergangenheit mit den Kindern können uns Aufschluss sowohl über unsere als auch ihre Verletzungen geben?
Ist man nicht liebevoll behandelt worden, war man unfrei und mit ständigen Ermahnungen und Schuldzuweisungen konfrontiert, wird man, bei aller Sehnsucht nach Nähe, eine innere Distanz zu den Eltern oder einem Elternteil entwickeln, um sich zu schützen. Nun sind nicht alle Kinder von allen Eltern lieblos behandelt worden. Es ist, im Gegenteil, oft sogar besonders liebevoll gemeint, wenn Eltern sich explizit auf Prägung und Erziehung verlegen, um dem Kind eine besonders gute Erziehung angedeihen zu lassen, damit sie im Leben besonders leicht vorankommen, da man es in der vorhergehenden Generation oft schwerer hatte. „Mein Kind soll es mal besser haben als ich“ bedeutet aber leider nicht mehr Liebe, sondern oft mehr Kontrolle. Das Problem liegt also im Widerspruch zwischen Absicht und Verwirklichung.
Zur alltäglichen Gemengelage der üblichen Probleme, die sich in Familien ergeben, kommt noch die spezifische Landes- und Volksgeschichte. Jedes Volk führte seine Kriege, wohlgemerkt nicht nur die Deutschen, die zu Unrecht als Monsterweltmeister gelten, während andere, Russen, Chinesen, Amerikaner, Italiener, Franzosen, Engländer etc. es sich angewöhnt haben, ihre Untaten als minder schlimmes Monstertum zu deklarieren. Nein, jedes Volk war im Laufe seiner Geschichte dazu gezwungen, Täter- und Opfertum zu verpacken und sich im zivilen Leben wieder einzugliedern.
Die Kriegs- und direkte Nachkriegsgeneration, die ja jetzt vor allem pflegebedürftig ist, kennt existentielle Bedrohungen sowohl durch Armut, Hunger, Krankheit, Unbildung, Ausbeutung, Missbrauch in Friedenszeiten als auch durch Waffengewalt, Tod, Hunger, Verlust der Behausung, oft auch der Heimat, Trennungen durch Tod, Flucht, Verschleppung oder Identitätsverlust in Kriegszeiten. All das sind Traumata, die vor allem verdrängt wurden und in die Ratschläge mit einflossen, die der jüngeren Generation gegeben wurden. Die Alten kennen den Mangel, der sich als Erinnerung und Gefühl bis in ihre letzte Körperzelle eingefressen hat und wissen die Fülle mehr zu schätzen als die Jungen, die die Fülle kennen und somit den Mangel nicht fühlen können und wollen. Dafür fühlen die Jungen einen anderen Mangel: den der Distanz.
Im Grunde sind diejenigen, die jetzt ihre Eltern pflegen oder pflegen sollten, immer noch Kriegskinder mit Traumata, die schlecht aufzuspüren und festzumachen sind. Der Zustand der deutschen Bevölkerung ist schlechter, als man bei den relativ idealen Bedingungen in der demokratiegesteuerten Nation meinen sollte. Natürlich ist der Druck auf dem Arbeitsmarkt groß, die Klimaveränderung droht mit Chaos, die Umweltverschmutzung hat auch den letzten Winkel der Erde erreicht - trotzdem könnte es uns gut gehen. Doch im Augenblick floriert vor allem eines: Der „Burn Out“, die Depression und alle damit zusammenhängenden Beschwerden. Warum ist das so?
Die furchtbaren Erlebnisse der Vergangenheit haben viele Menschen hart werden lassen. Wer zum Beispiel mitansehen musste, wie Haus und Hof verbrannte, Väter, Söhne und Brüder in einem sinnlosen Krieg starben oder irgendwann schweigend zurückkehrten, und sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hatten; wer mit ansah, wie die Mutigen, die sich nicht wegduckten, abtransportiert wurden; wer nicht nur Selbstlosigkeit und Warmherzigkeit, sondern auch lieblose Taten einiger Mitbürgern erlebte, Judentransporte, Kommunistenhetze, geduldet durch ängstliche oder disziplinierte Obrigkeitshörigkeit; wer während der Nazizeit und später in der DDR die Transformation von ehemaligen Freunden zu Denunzianten miterleben musste oder selbst zum Denunzianten wurde, um die Familie oder den Besitz zu schützen; wer als Kind, alter oder junger Mensch aus dem Osten vertrieben wurde und zum Teil mitansehen musste, wie Frauen aus der Familie vergewaltigt wurden; wer als Frau die alten Eltern, Kinder oder Geschwister allein durchbringen musste, war praktisch dazu gezwungen, sein Herz zu verhärten, da die innere Not und Kraftlosigkeit sonst zu groß und das emotionale System durchdreht wäre. Auf dem Land galten etwas bessere Bedingungen als in den Städten; hier griffen Unterdrückungsmechanismen und Spionagemaßnahmen weniger gut, da die Bevölkerungsdichte generell geringer ist und alle Menschen ihr Territorium und einander kennen. Hier herrscht traditionell auch geringerer Nahrungsmangel, es sei denn, die landwirtschaftlichen Strukturen sind zerstört und die Bauern getötet, wie zum Beispiel im Dreißigjährigen Krieg.
Als der Krieg vorbei war und sich das Land, durch die Amerikaner in seinem Aufbruch unterstützt, zu florieren anschickte, begann sich gleichzeitig ein Dorn mehr im Fleische des Volkes zu entzünden: Die Frage, wie man gefühlsmäßig mit den allseits bekannten Nazis umgehen sollte, die oft anstandslos ihre Posten in führenden Leitungspositionen, in der Bürokratie, im Bildungssystem, in Wirtschaft und Politik wieder antraten; woher hätte man auch all die Mutigen, Unbescholtenen, Gradlinigen nehmen sollen, da viele von ihnen entweder im Krieg, in Gefängnissen und in KZs umgekommen oder gebrochen worden waren? Man entschloss sich zum kollektiven Schweigen und Wegsehen, da man schon genug Probleme hatte und mit dem alten Kram nichts mehr zu tun haben wollte.
Die Erschütterungen der 68ger-Bewegung veränderte das Land noch einmal grundlegend. Die Studentenrevolte brach mit allen Traditionen, wollte alles über Bord werfen, was an die Vergangenheit mit ihren Sünden und schmierigen Nazistrukturen erinnerte. Es gab Erziehungsexperimente, sexuelle Freizügigkeit mit allen Vor- und gravierenden Nachteilen. Das Problem war vor allem, dass sich Menschen nicht allein deswegen ändern, weil andere es von ihnen wollen oder zu erzwingen versuchen. Menschen ändern sich nur, weil sie es wollen. Denn es ist gar nicht leicht sich zu ändern. Man muss täglich üben, in allen Lebenslagen ein guter, sprich liebevoller Mensch zu sein.
Auch die Revolutionäre waren nicht gleich deswegen bessere Menschen, weil sie die Bescholtenen stürzten, sonst hätte es ab 1968 keine Morde, Missbrauchsdelikte, Umweltsünden, Verleumdungen, Korruptionsfälle und Wirtschaftsvergehen mehr gegeben.
Und deshalb leben wir heute eben nicht im Paradies, sondern in einer Gesellschaft, die, ihrer Traditionen beraubt, gerade dabei ist, sich wieder verstärkt auf sie zu besinnen. Die alten Traditionen brauchen angesichts der aktuellen Herausforderungen eine leichte Korrektur: Eine bessere, also echte Bildung, vermittelt nicht durch weniger, sondern mehr und zugleich begnadete, begeisternde Lehrer (statt angestrebter Digitalisierung des Schulwesens), damit wir kollektiv wieder zu Verstand kommen, statt ihn immer vorhersehbarer zu verlieren. Dazu gehört ein größerer Respekt vor dem Planeten, der immer kleiner und verletzlicher wird; und nicht zuletzt mehr Respekt vor dem Menschen an sich. Die Jugend soll ebenso wie das Alter geehrt werden. Und die Eltern, die zunächst die „Navis“ für die Jungen sind, nehmen sich freiwillig vom Strom, sobald die Jungen selber den Weg finden, und genießen ihr Seniorendasein eingebettet in die Liebe ihrer Familien und Freunde.
UM GOTTES WILLEN! WER WILL DENN HEUTE NOCH EINEN ECHTEN GARTEN?
Der Mensch und die Natur – das ist schon immer ein bewegendes Thema gewesen. Es ist durchaus nicht neu, dass der Mensch die Natur zähmen will. Dieser Zivilisationsdrang hat schöne Blüten hervorgebracht. Wenn man an deutsche, italienische, französische und englische Ziergärten denkt, an die traumhaft duftigen Rabatten, die wie Teppiche vor den Schlössern, in Parks und Privatgärten ausgerollt wurden und werden, entspannt sich der Geist und die Mundwinkel heben sich. Niemand denkt dann primär an Lärm. Aber der Mensch wäre nicht der Mensch, wenn er sich nicht etwas gegen Schönheit und Harmonie ausdenken würde. Er kann nicht zu viel von beidem ertragen, weil ihm dann langweilig wird. Also ersann er die Elektrogartengeräte, als da wären: Rasenmäher, Rasentrimmer, Rasenlüfter, Vertikutierer, Akku-Grasschere, Häcksler, Hochdruckreiniger, Gartensäge und Gartensauger. Wenn es so richtig brummt und die Vögel ein paar hundert Dezibel an Lautstärke zulegen müssen, um ihre Liebespartner noch beeindrucken zu können, dann ist mancher deutsche Gartenbesitzer vollkommen glücklich.
Jetzt gibt es aber noch eine Steigerung, einen noch exakteren Ausdruck gelungenen Kontrollwillens: Bäume ab, Beete und Rasen weg und her mit dem dunkelgrauen Kiesgarten! Hätte man ihn nicht schon viel früher erfinden können? Dann hätten die Herrschenden der Erde richtig viel Geld sparen und sich endlich mal um ihre hungernde Bevölkerung kümmern können, denn mit einem dunkelgrauen Kiesgarten entfallen teure und zudem lästige Pflanzungen. Und die Kosten für die Gärtner, die die kontrollierte Natur im Gleichgewicht halten müssen. Letzten Sommer sah ich noch die Kolonnen im Pariser Jardin de Luxembourg, mindestens zwanzig Gärtner auf einmal, die pflanzten und hackten, wässerten und liebkosten. Nein, nein, da soll man nicht sentimental werden. Blumen machen viel zu viel Arbeit, auch wenn sie ganz hübsch aussehen. Aber farblich sind sie schwer zur Hauswand zu kombinieren. Nein, da lobe ich mir den dunkelgrauen Kies. Man erspart sich viel Denkarbeit und noch mehr Ärger, denn das Gift, das dem Gras oder etwaigen Wildblumen das unzulässige Sprießen vermiest, lässt sich viel einfacher und schneller auf einer Kiesfläche verteilen als auf Blumenbeeten. Es entfällt zudem der Kampf gegen Mehltau und Kastanienminiermotten, gemeine Parasiten und Pilze, die sich nicht für Kies interessieren.
Ein weiterer angenehmer Nebeneffekt ist der Wegfall des Nachbarschaftsstreits. Wo gestern noch Herr Tenbensel mit Herrn Venhuis (- das sind fiktive Personen!) in gnadenlosem Wettbewerb standen, wer die höchste Sonnenblume oder die buschigste Hortensie erzeugen konnte, wo sie mit Spaten und Rechen aufeinander losgingen, weil Laub sich unerlaubterweise von einem Grundstück zum anderen bewegt hatte, herrscht jetzt innige Zweisamkeit. Man kann jetzt des Öfteren beobachten, wie Nachbarn die Köpfe zusammenstecken, den Kies des anderen bewundern und einzelne Prachtexemplare sogar tauschen!
Auch deshalb bin ich inzwischen begeisterte Anhängerin des dunkelgrauen Kiesgartens! Kein Stein gleicht dem anderen. Das ist wahre Vielfalt in der Einheit. Jetzt denken Sie natürlich, die vollkommene gärtnerische Perfektion sei erreicht. Aber es geht doch immer noch besser. Was halten Sie davon: Asphalt! Na? Warum erst Zwischenlösungen ersinnen? Eine Asphaltfläche ist wie ein Zen-Garten: es ist das reine Sein, das Nichts in seiner reinen, einfachen Nichtigkeit. Sie brauchen noch nicht einmal ein Bonsaibäumchen dafür. Sie brauchen ... nichts. Platzieren Sie einfach Ihren Gartenstuhl so, dass Sie nichts sehen außer dem gleichmäßig gesprenkelten Grau Ihres Garten-Asphalts und kommen Sie zur Ruhe. Und zur Einsicht, dass die totale Kontrolle über die Natur endlich funktioniert. Wenn es kein Erdbeben gibt.
WAHR- UND FALSCHNEHMUNG IM MENSCHLICHEN MITEINANDER
Frage: „Liebe Frau Oehmen, es geschieht mir manchmal, dass ich eine Freundschaft schließe und alles ist in Ordnung und dann wird die andere irgendwie komisch, lässt sich verleugnen und ruft nicht zurück. Ich frage mich dann: Mag sie mich nicht mehr? Habe ich etwas Falsches gesagt oder getan? Bin ich vielleicht nicht gut genug?“
Woran liegt es, dass die Kommunikation an sich so kompliziert geworden ist, obwohl die Kommunikationsmöglichkeiten ins Unermessliche gestiegen sind? Liegt es womöglich an unserer Wahrnehmungsfähigkeit? Eigentlich dient sie ja dazu, andere „richtig“ einzuschätzen, abzutasten, ob sie zu uns passen oder nicht. Aber wie steht es mit ihr? Ist sie vielleicht längst eine „Falsch-Nehmung“ geworden? Warum könnte aus einer Wahrnehmung ihr Gegenteil entstehen? Jetzt mal ganz provokant: Vielleicht weil man uns so fleißig und wohlmeinend „behandelt“, erzogen und geprägt hat? Wenn wir als Baby das Licht der Welt erblicken geht das Übel nämlich schon los: Man schneidet uns ab von allem, was uns liebgeworden ist, man wiegt und misst uns und verurteilt manchen (um ganz sicherzugehen, dass er auch bleibt) zum Exil auf der Säuglingsstation. Danach wird fleißig erzogen und, was den meisten Eltern verborgen bleibt, durch Vorbild geprägt. Wir als Eltern geben unser Bestes genau wie wir als Baby unser Bestes geben. Das ist ein unleugbarer Faktor: Wir versuchen einfach immer unser Bestes zu geben, was immer dies auch sein mag. Das Beste wird definiert durch die Personen, die uns umringen. In einer Räuberfamilie ist das Beste, sich möglichst schlau beim Stehlen anzustellen. In einer Wissenschaftlerfamilie ist das Beste, alles vom rationalen Standpunkt aus zu sehen. In einer Künstlerfamilie ist das Beste, nicht alles nur vom rationalen Standpunkt aus zu sehen. In einer Politikerfamilie ist das Beste, immer einen Standpunkt zu haben, möglichst den politisch korrekten, also den der Familie.
Bestandteil der Prägung ist immer WERTUNG. Der oder die gehört dazu, der oder die andere nicht. Es wird fleißig und unermüdlich aussortiert und ausgestoßen, als seien bestimmte Menschen, Gedanken, Gefühle oder Handlungen gefährliche Krankheitserreger, die das mühsam ausbalancierte System zu sprengen drohen. Dabei beruht dieses „Ausbalancieren“ vielfach auf Verdrängung der eigenen Fehler oder der Fehler der Vorfahren. Wir als Kinder würden weit weniger werten. Wir sind neugierig und offen und trauen uns, den Mund aufzumachen und die Wahrheit kundzutun; die relative Wahrheit natürlich, die, die sich unseren noch unbeeinflussten Augen und Ohren darbietet. Und da wir versuchen, geliebt zu sein, dazuzugehören und eben nicht ausgestoßen zu werden, sind wir bereit, diese für „wahr-genommenen“ Ereignisse umzudefinieren in Lüge und die Lüge als Wahrheit zu akzeptieren.
Dies ist also die Wahrheit, die sogenannte „harte Realität“, in die wir hineingestoßen werden: Es wird nur der ins System hineingenommen, der sich anpasst und so ist wie die Mehrheit der Familie, der Gesellschaft, der Glaubens- oder Staatengemeinschaft. Überall baut sich der Druck auf und trifft auf unsere zarten Gemüter, die sich einzig und allein nach Annahme und Liebe sehnen. Und trotzdem lechzt diese Familie, diese Gesellschaft und Staatengemeinschaft nach den Menschen, die es schaffen, sich eben nicht anzupassen. Wie drückt es der indische Weise Krishnamurti so schön aus: „Nur ein Individuum, das nicht in gesellschaftliche Zwänge eingebunden ist, kann einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gesellschaft ausüben.“
Deshalb ist es so wichtig, dass wir unabhängig von Wertung werden. Denn die Wertung bewirkt unsere Anpassung. Sie beginnt im Kleinen und endet im Großen. Wir spielen im Matsch, weil er sich so schön seidig und geschmeidig anfühlt, werden aber dafür ausgeschimpft und zurechtgewiesen, weil Matsch „ba“ ist. Wir klettern auf ein Spielgerüst und werden entsetzt heruntergepfiffen, weil man „Bautz“ machen kann und dann ein „Au“ hat. Wir weisen auf Missstände hin und werden (oft künstlich empört) darauf hingewiesen, dass Mama oder Papa ganz traurig sind, weil wir uns so böse verhalten. Wir sollen das, was wir sehen und hören manchmal sagen und manchmal nicht, je nach Interessenslage der „Großen.“ Wir sind nicht brav, wenn wir machen, wonach uns der Sinn steht. Wir sind brav, wenn wir machen, wonach uns der Sinn nicht steht.
Herbe Lektionen, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Botschaft: Passe dich an, dann wirst du zwar nicht unbedingt geliebt, aber auch nicht ausgestoßen. Wir sollen eben nicht unmäßig werden und uns mit einem Minimum begnügen. Schutz gegen Unterwerfung.
Mein Vorschlag: Versuchen wir uns die Unterwerfung abzugewöhnen. Wie? Indem wir untersuchen, wie weit unsere Unterwerfung schon gediehen ist, sprich: wie weit wir schon im Wertesystem unserer wohlmeinenden Vorfahren samt wohlmeinender Gesellschaft gefangen sind. Gehen wir zum praktischen Teil über.
Notieren Sie alles, was Sie an sich selber stört, also „nervt“, wie man so schön im Umgangssprachlichen sagt. Wo überall bewerten Sie sich negativ? Schauen Sie sich schließlich jeden einzelnen Punkt an und fragen Sie sich: „Warum stört es mich und wie kam es dazu, dass ich mich hier für böse, unangemessen, gemein, dunkel halte? Wie lange ist dies schon so und bin ich wirklich dieser Meinung oder eigentlich nicht? Ist es wirklich ‚ba’, was ich denke und fühle oder finde ich es eigentlich ganz in Ordnung?“
Bei der Selbstanalyse werden wir immer auf ein Potpourri verschiedenster Gefühlslagen stoßen. Lassen Sie sich nicht irritieren und schreiten Sie tapfer voran! Sortieren Sie die „Ba’s“ aus, die Sie im Nachhinein vielleicht belächeln und für gut heißen. Streichen Sie diese Punkte einfach durch. Bei den hyperkritischen Selbstbewertungen und wirklichen „Ba’s“ gehen Sie folgenderweise vor: Nehmen Sie erst einmal alles in sich an und gewähren Sie sich eine Generalabsolution. Man schuf uns gut und böse. Dumme Sache, aber so sieht es aus. Der Trick dabei: Wenn wir uns vollkommen und bedingungslos annehmen und nicht ständig bewerten sprich kritisieren, entwickeln wir ausreichend Kraft, um uns zu ändern. In welcher Weise wollen wir uns ändern? Die meisten von uns möchten gut sein. Nicht alle, aber die meisten. Nun gut.
Gehen Sie also alle Punkte durch und notieren Sie sich Ihre Strategien: Wie können Sie positiv und gewinnbringend mit jedem einzelnen Punkt umgehen? Wie können Sie eine Lösung herbeiführen, wie es erträglicher für sich gestalten? Es „nervt“ Sie, dass Sie so viele Selbstzweifel haben und unsicher im Umgang mit anderen Personen sind? Die Strategie könnte so aussehen – Streichen Sie die zersetzenden Sätze, die womöglich seit der Kindheit in Ihnen kursieren à la: „Ich kann nichts, ich bin nicht gut genug, ich werde es nie schaffen, ich bin unattraktiv“ und sagen Sie sich stattdessen: „Ich glaube an mich. Ich mag mich. Ich sehe gut aus. Ich vertraue auf meine Stärke.“ An einen Teil der Leser: Winken Sie jetzt nicht ab mit einem „genervten“: „Wieder dieser positive Gedankenscheiß!“ Ich versichere Ihnen, dass Sie das nur denken, weil man Ihnen diese Denkweise beigebracht hat. Denn wie der Volksmund sagt: „Steter Tropfen höhlt den Stein.“ Ausgehöhlt und kraftlos fühlt sich so mancher von Ihnen.
Überprüfen Sie also kurz: Mögen Sie sich? Nehmen Sie sich vollkommen an wie die ideale Mutter und der ideale Vater das Kind? Wenn nicht lesen Sie weiter. Und wenn möglich probieren Sie die Vorgehensweise aus.
Sie kritisieren vielleicht an sich, dass Sie sich alles gefallen lassen und nie Ihre Position durchsetzen können. Die Lösungsstrategie: „Ich übe, ich selbst zu sein. Bei Entscheidungen nehme ich mir die Zeit zu atmen und mich zu fragen, was ich wirklich will. Ich übe, dies laut zu sagen.“ Es empfiehlt sich, vorher schriftlich zu trainieren. Auf einem Block analysieren wir die Situationen, in denen wir „mal wieder versagt“ und unsere Position nicht aufrichtig vertreten, also „gekuscht“ haben. Wir notieren, was wir hätten sagen können/sollen. Wir müssen dies erst wieder üben, denn der Kindermund, der damals die Wahrheit kundtat ist schon so lange mundtot gemacht worden, dass er eingerostet ist. Es ist im Umgang mit anderen ebenso Verunsicherten enorm wichtig, klar in der Sache, aber freundlich im Umgangston zu sein und niemandem mit der neu erworbenen Klarheit ins Gesicht zu springen. Sonst bewirkt sie das Gegenteil von Klarheit, nämlich Verletzung, Missverständnisse, Ablehnung.
Sie kritisieren sich vielleicht dafür, gar keine Position zu haben. Es lohnt sich immer die Frage nach dem Warum. Wie reagierte man in Ihrer Familie auf Ihre ehrlichen Positionen? Warum sind Sie inzwischen so verschüchtert, dass Sie sie noch nicht einmal mehr kennen und bei Entscheidungen zu Äußerungen neigen wie: „Ist mir nicht so wichtig. Entscheide du. Mir ist alles recht,“ obwohl Ihnen keineswegs alles recht ist? Vielleicht kritisieren Sie sich auch für schlechte Gedanken, Eifersucht, Hass. Für Ungeduld, unangemessene Neugier. Es gibt für alles eine Lösungsstrategie. Notieren Sie sich das, was Ihnen dazu einfällt und achten Sie auf die Umsetzung dessen, was Sie für richtig erachten. Üben Sie! Der Volksmund spricht dazu in seiner unnachahmlichen Guru-Weisheit: „Übung macht den Meister!“
Dann gehen Sie weiter: Notieren Sie, was Sie an Ihrem Partner aufbringt, an den Kindern, der Familie, den Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen, an Situationen usw. Finden Sie Lösungsansätze. Wir können uns umpolen, das heißt: Jemand verhält sich gemein zu uns und wir reagieren nicht verletzt, sondern verständnisvoll, abwartend, vielleicht klärend oder entscheiden uns ohne Groll, die Person gehen zu lassen. Bei Tatbeständen wie: „Nie ruft die andere mich an“, können wir natürlich entscheiden: „Ab jetzt rufe ich auch nicht mehr an.“ Es gibt aber auch die Möglichkeit zu sagen: „Na gut, dann ist es meine Aufgabe anzurufen, sie ist nicht so gut darin.“ Bei Paarproblemen à la: „Nie macht er oder sie dies oder das", können wir uns statt innerlich zu grollen oder zu nörgeln, dazu entscheiden, das Thema ganz ruhig anzusprechen, wenn es uns wirklich wichtig ist. Wir können uns auch sagen: „Na gut, dann ist dies ab jetzt meine Aufgabe, dafür macht er oder sie andere Dinge für mich.“
Bei allem im Leben kommt es darauf an, wie wir uns dazu stellen. Denn WIR stecken in unserer Haut, nicht die anderen. Wir sind keine steuerbaren Roboter (wenn wir uns nicht dazu umfunktionieren lassen), sondern besitzen die Handlungsgewalt selbst in Situationen, in denen wir scheinbar Opfer sind. Nur das Opfer selbst kann dauerhaft beschließen, nicht länger Opfer zu sein. Sogar in ganz krassen Situationen, in denen wir niedergezwungen werden, wie das häufig in totalitären Systemen geschieht, können wir innerlich frei bleiben. Lernen wir uns besser kennen. Dann können wir uns in allen Situationen so verhalten, dass wir klar erkennbar sind.
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ein Mensch sortiert mich zuerst ein und dann wieder aus, ohne mir eine Erklärung dafür zu geben? Die Frage: Warum handelt der andere vermutlich in dieser Weise? Antwort: Er hat seine Gründe, sein Wertesystem, vielleicht auch Angst vor Nähe. Die Frage: Warum belastet mich dieses Verhalten so stark? Antwort: Weil ich mein ganzes Leben lang schon versuche, irgendwo angenommen zu werden und immer wieder auf Ablehnung stoße. Weil ich versuche, so zu sein, wie die anderen es wollen, aber immer wieder scheitere. Weil ich mich verloren habe und nicht mehr weiß, wer ich bin. Weil ich mich allein fühle und bei jeder weiteren Zurückweisung weniger werde. Meine Lösungsstrategie? Ich beginne, mich zu lieben, wenn es schon kein anderer tut. Ich rede mir gut zu und lasse die Menschen, die mich aussortieren, einfach weiterziehen. Ich schaue in den Himmel und atme tief durch. Ich sage mir: „Ich lasse mich nicht unterkriegen! Mein Leben soll schön sein. Mein Herz offen und warm. Ich werde mir und meinen Mitmenschen die Liebe geben, die ich vermisse. Auch durch meine Klarheit, die ich mir mit jedem Tag mehr erarbeite.“ Letztlich können wir den Menschen dankbar dafür sein, wenn Sie uns mit ihrem „Fehlverhalten“ den Anstoß geben, endlich zu uns selbst zu finden.
KRANKHEIT ALS LÖSUNGSWEG
Frage: Liebe Frau Oehmen, warum muss es Krankheit geben? Ich glaube von mir sagen zu dürfen, dass ich ein guter Mensch bin. Trotzdem bin ich krank geworden. Wie kann das sein?
Ich freue mich über Ihre Aussage, dass Sie sich für einen guten Menschen halten. Das ist ziemlich selten. Meistens denken die Menschen von sich ziemlich schlecht. Sie haben natürlich insofern Recht, die Verbindung von Gutsein und Heilsein herzustellen, als Krankheit vorwiegend in der Psyche entsteht. Umgekehrt heißt es ja: „Mens sana in corpore sano“ - Gesunder Geist im gesunden Körper. Gesundheit ist aber offensichtlich keine Belohnung für Gutsein, denn sonst gäbe es nicht so viele „Gute“, die krank werden. Oder? Aber was ist Gutsein und was Heilsein? Und inwiefern kann Krankheit uns nützen, da es sie ja nun mal gibt? Was sagt sie über uns und unser Gut- oder Schlechtsein?
Beginnen wir mit einem Versuch über das „Gutsein.“ Es kann sehr subjektiv sein, da seine Definition aus unserem Kosmos entspringt. Was ich für gut halte, hält jemand anderer vielleicht für schlecht. Ich meine es vielleicht gut, greife aber in die Entscheidungsfreiheit eines anderen ein und verursache Probleme, wo es vorher keine gab. Ich halte es vielleicht für „gut“, meine Meinung zurückzuhalten, um niemanden zu verletzen und verletze womöglich gerade dadurch, dass ich nichts gesagt habe. Das was ich gedacht habe, muss ja nicht richtig sein, es muss aber auch nicht automatisch falsch oder unsensibel sein. Wichtiger als „gut zu sein“, was immer man darunter versteht, ist es vielleicht eher, authentisch zu sein. Offen zu zeigen wer man wirklich ist. Denn „gut“ kann ja auch „brav“ sein, ein anerzogenes Bravsein, in dem man sich zwar nicht wiederfindet, aber das gesellschaftlich anerkannt wird. Mit der Einschränkung, dass dieses Bravsein uns unsichtbar macht, wir ausgenutzt werden und in unserem Gut- und Bravsein gar nicht gesehen werden. Man sieht uns nur, wenn wir Konturen bekommen. Die Konturen entstehen durch das, was uns von unserem Umfeld unterscheidet. Das was eben nicht alle haben und vielleicht auch nicht alle gutheißen. Aber dieses „Gutheißen“ kann nicht unser Maßstab sein, denn jeder empfindet auf seine Weise. Der einzige Maßstab, den wir alle benutzen können, ist unser natürliches Empfinden von Liebe, Wärme, Gerechtigkeit. Das ist auch letztendlich das, was wir als wahrhaft „gut“ empfinden. Doch in der Umsetzung scheiden sich wieder die Geister.
Krankheiten gehören zu unserem Alltag. Leider. Aber in dem sehr weise konzipierten Schöpfungsplan haben auch sie ihre Aufgabe. Sie existieren, weil wir etwas in uns nicht wahrhaben wollen. Die Krankheiten warnen uns vor dem Verdrängen unserer inneren Wahrheiten. Krankheit muss sich dann zeigen, wenn wir mit unseren Energien nicht sorgsam genug umgegangen sind, wenn wir etwas ignorieren, auf das wir schauen müssten. Die ersten Signale äußern sich im psychischen Bereich: Man fühlt sich müde, ausgelaugt, unter ständigem Druck, man ist aggressiv, unausgeglichen, traurig, ängstlich. Manchmal auch überdreht und „zu lustig“, also aufgesetzt gut gelaunt. Laufen wir vor unseren wahren Gefühlen und Gedanken weg und versuchen sie zu überdecken, weil wir sie für „schlecht“ halten, müssen sich die unausgeglichenen Energien einen anderen Ausweg, eben die Krankheit, suchen.
Krankheiten deuten häufig in ihrer Symbolik auf die Stellen hin, wo wir die Gefühle unterdrücken. Wenn uns etwas „an die Nieren“ gegangen ist, zum Beispiel in Form einer Nierenkolik, dann sollten wir schauen, in welcher schmerzhaften Situation wir gerade stecken. Eine Scheidung, ein Familienstreit, Probleme mit den Kindern, Arbeitslosigkeit, chronischer Geldmangel? Die Nieren sorgen im Körper für die Ausscheidung von überflüssigem Material und Giftstoffen. Im übertragenen Sinne heißt das: Wir haben giftige Gedanken, angestauten Ärger, Sorgen und Zweifel zu lange in uns geduldet, sie verseuchen uns. Wir lassen sie nicht aus dem Körper heraus, sondern deponieren sie dort. In Ihrem persönlichen Falle womöglich, weil Sie eben ein guter Mensch sind oder sein wollen und niemanden mit ihren Gedanken konfrontieren und „stören.“ Das funktioniert aber leider nicht, denn Gedanken sind pure Energie, sie sind Schöpferkraft. Irregeleitet oder unterdrückt können sie schweren Schaden in uns anrichten.
Wir sollten uns also überlegen, wie wir uns verändern und diese Kraft stattdessen für uns nutzen können. Denn wenn wir uns und den Umgang mit unseren Gedanken und angekoppelten Gefühlen nicht verändern, werden sich die Organe immer wieder mit einer Krankheit bei uns melden. Wir sollten also im Falle der Nierenkolik überprüfen, woher der Schmerz in uns wirklich kommt. Wo fühlen wir uns prinzipiell und seit langem verletzt, abgelehnt, ungeliebt? Wir lernen, über die angesammelte Frustration zu reden und schließlich die Situation so in uns und in unserem Umfeld zu verändern, dass die Nieren sich wieder um ihre Grundaufgabe kümmern können.
Auch wenn ich mich wiederhole: Sehr wichtig ist die Erkenntnis, dass klare Äußerungen nicht automatisch mit Ablehnung bestraft werden. Im Gegenteil: wer es geschafft hat, einen Einklang herzustellen zwischen dem, was er fühlt und denkt und dem was er sagt und tut, wird dafür geachtet und geliebt. Denn Unklarheiten in unserer Positionierung schaffen immer wieder Komplikationen im menschlichen Miteinander. Wenn man weiß, woran man beim anderen ist, muss man nicht mehr spekulieren und sich aus Unkenntnis falsche Urteile über jemanden bilden.
Ein anderes Beispiel: Wenn jemand „Gift und Galle spuckt“, also an einer Erkrankung der Gallenblase leidet, dann bedeutet das, dass etwas nicht verdaut werden kann – die Galle ist für die Fettverdauung zuständig - man versucht die quersitzende Energie los zu werden, schafft es aber nicht auf normalem Wege. Der „normale“ Weg wäre zuerst das Hinschauen und Analysieren (sprich: Verdauen) und im Folgenden die Aussprache, wenn sie dann noch nötig ist. Der Mensch sollte sich seiner zersetzenden Wut stellen, sich fragen, warum sie derart intensiv ist und bereit sein, sie zu verwandeln. Er kann sich sagen: „Gut, hier kann ich etwas lernen. Ich kann meine Wut selber nicht leiden, sie schadet mir nur, ich schaue genauer hin, warum sie sich entwickelt hat.“ Das heißt: ein Schauen auf die Krankheit bedeutet Bereitschaft zur Wandlung, zur Eigenverantwortlichkeit, zur Demut, zum Verzicht auf Rache, zur Bereitschaft, sich selbst anzunehmen. Die Wandlung bewirkt, dass die Krankheit überflüssig wird. Sie kann sich wieder zurückziehen. Wir nähren sie nicht mehr mit zersetzender Energie. Und unser Körper kann sich regenerieren, denn in uns befindet sich ein Medizinschrank, der für jede Krankheit ein Heilmittel enthält. Sobald das Kommando gekommen ist: „Die Chefin/der Chef hat’s kapiert, Krankheit überflüssig!“, produziert der Körper jede erdenkliche hilfreiche Chemikalie, je nachdem, ob ein Eindringling abgewiesen oder ein Schwächezustand behoben werden muss. Wir sind ein Wunderwerk, das, je weiter wir in der Forschung vorrücken, sich immer grandioser und weiser darstellt!
Wenn Sie jedoch schon das Gefühl haben, warm und offen zu sein, keinen Hass in sich zu fühlen, auch keinen Hass gegen sich selber; wenn Sie immer ihr Herz „ausschütten“, wenn es randvoll ist mit Trauer oder Wut, wenn Sie also keine „Mördergrube“ daraus machen; wenn Sie vielleicht gar keine Wut mehr entwickeln müssen, weil Sie Ihre Themen geklärt haben; wenn Sie unverletzlich sind, weil Sie wissen, dass der, der verletzt, meistens eigene Probleme hat, die er irgendwo abladen will; wenn Sie sich lieben und vollkommen annehmen und nett mit sich umgehen, also auch Ihr Umfeld vollkommen annehmen und lieben können – dann werden Sie wahrscheinlich schon bald wieder gesund. Ich wünsche es Ihnen.
WIR ALLE SIND DAS KIND
Neulich besuchten mich eine Mutter und ihr elfjähriger Sohn. Der streifte durch das Wohnzimmer, blieb vor einem kleinen Yin-Yang-Garten mit Härkchen stehen und verkündete: „Das könnte ich stundenlang machen.“ Wir schauten ihn verwundert an. Er fuhr fort: „Ich weiß wohl, was das ist.“ „Ach ja?“, fragte ich. „Was ist es denn?“ „Das ist Yin und Yang. Der weiße Sand ist das Gute im Menschen und der schwarze das Böse. Aber im Bösen wohnt auch das Gute und im Guten das Böse.“ Dabei deutete er auf den schwarzen Stein im weißen Feld und den weißen im schwarzen.
Der Junge, der auf die ADHS-Schiene und in die Dauertherapie gedrängt worden war, blickte dabei mit seinen klaren Augen auf mich und seine Mutter. Er fügte dem nichts hinzu, doch er signalisierte uns Folgendes:
„Macht euch keine Sorgen. Wir sind ja da und helfen euch. Denkt nicht, wir seien kleine und dumme Wesen, denen man beibringen muss, wie man sich in der Gemeinschaft verhalten sollte. Denn es ist umgekehrt: wir helfen euch durch unsere unverbrauchte Sicht, wieder zu euch zu finden. Wir Kinder erneuern das Licht in euch, wenn sich dieses durch Verzweiflung, Hass, Kritik, Neid und Ungeduld verdunkelt hat. Deshalb behindert uns nicht durch eure Sorgen an der Entfaltung größtmöglicher Liebe. Wir sind so lange unkonventionell, wie ihr uns lasst.
Nur wenn wir ganz stark sind, beharren wir auf unserer Mission, lassen uns nicht verbiegen und gehen in die Revolte, die leider viel Kraft verschlingt und uns daran hindert, das zu tun, was wir vorhatten. Wir Kinder bitten euch: liebt uns einfach, vertraut uns, helft uns nur dabei, im Umgang mit der Materie zurechtzukommen. Alles, was darüber hinausgeht: unsere Neugier, unsere Ideen, unseren Wagemut, unseren Witz – all das solltet ihr uns aus lauter Angst nicht nehmen. Die ‚laute’ Angst hat sich überall in den Köpfen und Herzen ausgebreitet, sie schreit dort täglich ihre Botschaften und lässt euch eure Kraft vergessen. Ihr duckt euch, kauert euch zusammen, verschränkt die Arme über dem Kopf und wollt nicht mehr hinschauen, weil sich alles zum Schlechteren wendet? Das tut es nicht. Glaubt an euch und eure Kraft, alles zu verwandeln!
Ihr wart auch mal so ‚klein’ wie ich. Wo sind eure Träume hingeflogen? Wo ist euer Wagemut, euer Ideenreichtum? Streift die Fesseln eures Denkens ab und schaut auf euch: ihr alle seid Lichtwesen und gekommen, um die Erde in ein Paradies zu verwandeln. Denkt und fühlt Liebe täglich so intensiv, bis jede Faser eures Körpers davon ergriffen wird und zu strahlen beginnt! Denkt mit dieser Liebe in Kopf und Herz überall dorthin, wo Dunkelheit herrscht! In die Familienzwistigkeiten und Aggressionen hierzulande, in die Kriegs- und Krisengebiete, in die Regionen, in denen der Terror herrscht, in die Seuchengebiete und bedrohten Naturreservate. Denkt sie sauber und heil, denkt die Menschen ideal, appelliert durch eure Gedankenmacht an ihre wahre Natur. Sendet Lichtblitze durch eure Gebete. Denn nichts anderes ist das Versenden von Liebe. Es sind Gebete, die darum ‚erhört’ werden, weil wir alle aus Schwingungen bestehen – wir sind Teil eines gigantischen, göttlichen Frequenzfeldes, dessen spezifische Felder (also wir) ununterbrochen miteinander in Kontakt stehen, senden und empfangen, senden und empfangen! Wenn wir Liebe, Heilung, Glück, Leichtigkeit und Lösung senden, dann werden diejenigen, die sich in der Verstrickung befinden, dies ‚erhören’, erfühlen, erahnen. Sie werden an sich selbst und ihre einstigen Ideale erinnert. Sie werden wieder Kind – für einen kurzen Moment, für genau die Zeitspanne, in denen wir ihnen diese Lichtbotschaften schicken.
Ein kurzer Moment der Erkenntnis reicht, um die ‚Erleuchtung’ zu bewirken. Sie verbindet uns mit dem Wissen um unsere Mission: wir sind hier, um das Licht der Liebe zu verbreiten. ‚Machet euch die Erde untertan’ heißt: erfüllt die Erde mit Licht, damit sie in ihrer ganzen Schönheit erstrahlen kann. Überwindet die Hürde der Polarität. Vereint Gut und Böse, indem ihr die Kraft zum Bösen nicht dazu verwendet, Menschen, Tiere und Natur zu knechten und auszubeuten, sondern sie in noch mehr Schönheit zu verwandeln. Benutzt eure mächtigen Gedanken- und Gefühlskräfte dazu, echte Harmonie zu erschaffen! Visualisiert diese Welt, die ihr euch erträumt, wenn ihr ganz bei euch seid. Es ist nicht die Welt, in der der Große den Kleinen, der Starke den Schwachen vernichtet – es ist die Welt, in der einer dem anderen zur Seite steht, ihn ‚wahr’nimmt, ihn erkennt als universelles und gleichzeitiges individuelles Wesen kosmischer Prägung.
Überwindet die Probleme des Alltags durch eure Liebe. Verzichtet darauf, Schuldige zu suchen, euch zu beklagen, euch klein zu machen und andere herunterzuziehen, damit ihr euch nicht schämen müsst, dort allein zu hocken. Verzichtet darauf, andere zu kritisieren, ‚fertigzumachen’, sie zu beneiden, sie zu verachten, sie zu beschimpfen. Erkennt euch im anderen. Nehmt euch die Zeit dazu, den Menschen um euch herum in die Augen zu schauen und sie zu erkennen. Denkt nicht weiter: ‚Der ist blöd. Die ist zickig. Der ist arrogant. Die ist unfähig.’ Denkt stattdessen: ‚Mensch.’ Nicht mehr und nicht weniger. Und was bedeutet ‚Mensch’? Es bedeutet: ‚Liebe fühlendes, Liebe anstrebendes Wesen.’ Als Mensch brauchen wir nichts Dringender als Liebe. Und als Mensch können wir nichts Schöneres, Edleres geben. Was hält uns davon ab, es zu tun? Täglich, stündlich, minütlich? Es macht keine Arbeit, es ist ganz leicht. Es ist viel leichter als zu hassen, Intrigen zu spinnen und zu verwalten, Gift und Galle zu spucken, vor sich hinzubrummeln, zu meckern und anzuklagen. Es ist einfach und macht uns alle heil. Deshalb bin ich hier. Ich sehe aus wie ein kleiner dummer Junge, der ADHS hat. Aber in Wirklichkeit hat die Welt ADHS und ich bin mit vielen anderen gekommen, um sie davon zu kurieren. Und all die anderen Erwachsenen, die als Kinder hier begannen, sind auch deswegen hier. Deshalb bitte ich euch: Behindert uns nicht. Liebt uns und lasst uns lieben. Wir lernen von euch, ihr lernt von uns. Einverstanden?“
So oder so ähnlich habe ich ihn verstanden, während er in meinem Wohnzimmer herumbummelte und sich die Bilder, Steine, Pflanzen und Bücher anschaute. Ich glaube, dass er Recht hat.
DER BOCHOLTER UND SEINE STILLE LIEBE
Dass Bocholter mit einem Fahrrad zwischen den Beinen geboren werden, hörte ich schon, als ich noch nicht hier ansässig war. Ich stellte es nicht in Frage, obwohl das Bild Fragen aufwarf. Ich erfuhr damals auch schon, dass es mehr „Fietsen“ als Einwohner gibt, weil ein echter Bocholter mindestens ein Ersatzfahrrad besitzt, falls das andere schlapp macht oder geklaut wird und die Aa-Böschung ziert. Als ich das erste Mal in dieser idyllischen Stadt Auto fuhr, blieb mir fast das Herz stehen. Obwohl ich meinen Führerschein in der Großstadt gemacht hatte und mich einigermaßen gewappnet fühlte, war Bocholt eine ähnliche Herausforderung wie Istanbul oder Kairo. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, dass man ständig im Begriff stand jemanden ins Grab zu befördern. Von überall her strömten die Anarchisten, von rechts, links, vorne, hinten. Man musste immer und überall auf sie gefasst sein, denn sie benahmen sich so, als gehöre ihnen das gesamte städtische Territorium. Zumindest verteidigen sie es mit rasantem Geklingel.
Inzwischen habe ich mich nicht nur an das Fahrrad gewöhnt, sondern bin ihm regelrecht verfallen. Ich erledige alles mit meiner Fietse: Kinder, Blumen, Einkäufe – es türmt sich vor und hinter mir, die Lenker werden möglichst gleichmäßig belastet, damit der Hüftschwung, mit dem man das Gefährt wie ein sensibles Lasttier dirigiert, keine unerwarteten Konsequenzen nach sich zieht. Nur einmal, bei Glatteis, gelang mir dies nicht. Ich hatte einen dicken Kohlkopf in meinen Korb gelegt. Er reagierte extrem sensibel auf jede Bewegung. Und als ich eine Linkskurve anging, rollte auch der Kohl im Korb nach links und ich hatte keine Chance mehr. Das heimische Wintergemüse schoss in einen Vorgarten und kam erst kurz vor der Tür eines Mehrfamilienhauses zum Stehen. Ich hingegen legte weniger Strecke zurück, sondern krachte mitsamt den Resteinkäufen, den Bananen, Tomaten und Gurken, die man sowieso nicht im Winter kaufen sollte, weil sie weder regional noch saisonal sind, zu Boden.
Dabei bekam ich Farbe. Warum soll man immer nur durch Sonne oder Farbe Farbe bekommen? Man kann es auch durch Glatteis. Blaue Flecken sind übrigens selten rein blau, sie können in allen Rot- und Lilatönen aufblühen – das sieht sehr schön aus, besonders im Winter.
Zurück zum Thema: der Fahrrad-Kultur. Man lächelt und grüßt einander von Lasttier zu Lasttier. Die einen sitzen aufrecht und geradezu grandios auf ihren Thermosatteln, andere hingegen wirken zusammengefaltet und überfordert. Alle Altersgruppen sind unterwegs. Rüstige Omas und Opas sind Legion. Manchmal lugen Hundchen mit wehenden Ohren aus Hundefahrradkörbchen. Katzen und Schlangen dagegen sind tabu. Komisch eigentlich. Gerne und in gesellschaftlich abgesegneter Übereinkunft stellt man sein Rad vor eines dieser Schilder, auf denen steht: „Fahrräder abstellen verboten.“ Diese Schilder sind, aus des Radlers Sicht, genau dort angebracht, wo es besonders praktisch ist zu parken. Deshalb verursachen sie offensichtlich kein schlechtes Gewissen.
Auch ich bleibe inzwischen so lange auf dem Rad wie irgend möglich. Besonders vor roten Ampeln, die einfach nicht grün werden wollen, vollführe ich allerlei Bremsmanöver und Hinhaltekürvchen, um nur nicht absteigen zu müssen. Eingefleischte Einheimische stellen sich noch klüger an: sie drosseln ihr Tempo beim Anblick einer renitenten Ampelanlage und fallen oft so plötzlich zurück, dass sie als Gesprächspartner ausfallen. Gar manchen Satz sprach ich so ins Blaue oder zu einem völlig Fremden, der stattdessen neben mir aufkreuzte. Man wird dann schnell gefragt: „Sind Sie nicht von hier?“ Ich könnte dann antworten: „Oh wat“, aber ich weiß nicht genau, was das in diesem Zusammenhang bewirken würde. Also sage ich meistens nichts. Oder ich fange ein Kurz-Satz-Gespräch an, das ganz streng philosophische und politische Inhalte ausklammert, da die Ampeln in Bocholt schnell aufeinanderfolgen.
Jedem Neueinwanderer wird ziemlich schnell klar, dass er ohne Rad in Bocholt nicht viel erreichen wird. Es droht ihm nicht gleich die gesellschaftliche Ächtung, aber doch ein mildes bis weitreichendes Unverständnis: „Wat? Keine Fietse in Bocholt? Also ne...“ Darum sieht man neuerdings hilflose Gestalten sich mit teils überalterten Drahtgestellen abmühen, deren Maße in keiner Weise mit denen des Dompteurs übereinstimmen. Der Einheimische weiß schon Bescheid, wenn ein Quietschen, Klappern und heftiges Keuchen hinter ihm ertönt. Aha. Ein neues Mitglied der Gemeinde.
Neulich fuhr einer dieser Neuen zwar auf der richtigen Straßenseite und auch auf dem Fahrradweg, aber er blieb der linken Seite verhaftet. Auch durch ein lieb gemeintes Klingelzeichen ließ er sich dort nicht wegbewegen. Während ich rechts überholte, raunzte ein anderer, hinter mir Fahrender: „Rechts fahren!“ Der Neue klammerte sich an sein Rad und rückte noch weiter nach links. Ich musste dann absteigen und ihn gegen die Lynchjustiz verteidigen. Auf dem Rückweg lief es nicht besser: eine Viererreihe Schüler kam mir beim Nadelöhr an der Münsterstraße selbstbewusst kalauernd entgegen und erprobte meine Nervenstärke in Sachen Selbstbehauptung.
Die Polizei versucht neuerdings Ordnung zu schaffen, denn die Neuen haben gewissermaßen die Anarchie des Naturbocholters noch befördert und ausgebaut. Und so kann es geschehen, dass einkaufende Mütterchen umständlich ihr Portemonnaie hervorkramen und Strafe zahlen müssen, weil sie illegal in der Fußgängerzone gerast sind. Da helfen dann auch nicht die gestammelten Entschuldigungen à la: „Dat is ein Notfall! Hab keine Zigaretten mehr!“ Neulich bei der Blitzrazzia erwischten Kinder ihre Eltern und Schüler ihre Lehrer beim unerlaubten Rennfahren in verkehrsberuhigten Zonen. Man muss etwas nachsichtig mit ihnen umgehen. Es waren alles Bocholter. Und wir wissen doch: Wir Bocholter üben unerlaubtes Rennfahren schon seit unserer Geburt (selbst wenn wir nicht hier geboren sind). Es gehört einfach dazu. Alles andere wäre grob fahrlässig. Man könnte es auch umdrehen und sagen: Bocholter sind eben fahrradlässig.
DER ALLTAG IST UNSER MEISTER
Jeden Morgen stehen die einen auf, werfen sich ins Getümmel des Arbeitslebens, kämpfen sich durch den Tag und fallen abends erschöpft ins Bett, um morgens wieder aufzustehen. Andere kommen nicht aus dem Bett, haben keine Arbeit oder keine Ahnung, was sie mit ihrem Tag anfangen sollen, sind befallen von Zweifeln und haben Schuldgefühle, weil sie nichts tun, obwohl sie nicht krank sind. Wieder andere sind krank und können nichts tun, sehnen sich aber intensiv danach, etwas tun zu können. Die Variationsbreite der menschlichen Zustände ist unendlich groß, da jeder Mensch seinen eigenen, unverwechselbaren Weg geht, sei es über zu viel, zu wenig oder gerade richtig viel Tätigkeit. Unser Leben wird bestimmt von den Rhythmen der gesellschaftlichen Vereinbarungen, die beinhalten, dass wir als Kinder zuerst in den Kindergarten und dann regelmäßig zur Schule gehen, danach eine Ausbildung machen, einen Beruf ergreifen und schließlich in Rente gehen. Es gibt auch die, die die Schule schwänzen, die keine Ausbildung machen und keinen Beruf ausüben.
All das sagt nichts über den inneren Zustand der Menschen aus. Sind die glücklicher, die einen Beruf haben oder die, die keinen haben? Sind die unglücklicher, die viel arbeiten oder die, die wenig arbeiten? Kann man zu viel oder zu wenig Zeit haben?
Der Alltag, übersetzt: der normal verlaufende Tag ohne Überraschungen, der vorgeplante Zeitraum zwischen dem Morgen und dem Abend (oder für Schichtarbeiter zwischen dem Abend und dem Morgen)ist im Sprachgebrauch oft das Synonym für eine gewisse Langeweile, für ein Abgenutztsein, eben für die Abwesenheit von Überraschungen, für die Abwesenheit von Spaß. „Alltag“ bedeutet genau zu wissen, wie alles abläuft, zum Beispiel jeden Tag Frühstück machen, Kinder zur Schule bringen, Hausarbeit, Essen kochen, Kinder abholen, bei den Hausaufgaben helfen, Kinder zu verschiedenen Terminen bringen, Abendessen kochen, Kinder ins Bett bringen, Ehemann verwöhnen oder registrieren (je nach Zustand der Ehe). Oder: Aufstehen, zur Arbeit gehen, den ganzen Tag im Büro sitzen oder den ganzen Tag auf dem Baugerüst stehen oder den ganzen Tag im Krankenhaus arbeiten und so weiter und so fort.
Wenn wir diesen Alltag allerdings genauer betrachten, so fällt die Zweiteilung des Wortes auf. All Tag. Man könnte es übersetzen mit: Alle Tage. Alle Tage das Gleiche. Man könnte aber auch sagen: das All in einem Tag. Nicht nur das All, das Universum, das sich über unseren Köpfen bis ins Unendliche dehnt, sondern auch das Alles in einem Tag. Das „alles ist möglich“, schon an einem einzigen Tag! Was könnte man an einem einzigen Tag wohl alles machen?
Ja, natürlich, man könnte etwas ganz anderes als sonst unternehmen, man könnte krank feiern, in den Zoo gehen oder nach Paris fahren und auf den Eiffelturm klettern. Aber was machen dann die Kinder? Wie kommen sie in den Kindergarten und nachmittags zur Musikschule? Wie würde die Arbeit im Krankenhaus vorangehen und die in der Zeitungsredaktion, wer würde das Haus bauen und wer das marode Leitungssystem reparieren?
Wie wär’s damit: man könnte das, was man ohnehin machen muss, mit mehr Freude tun. Man könnte sich klar machen, dass es nicht nur sowieso getan werden muss, sondern dass das, was wir tun, auch sinnvoll ist. Jeder trägt etwas zum Gelingen des Ganzen bei. Und darüber hinaus könnte man begreifen, dass jeder Augenblick schön sein kann, wenn wir dies so wollen. Keiner kann in uns hineinschlüpfen und uns befehlen, wie wir uns fühlen sollen. Man kann uns zwar versuchen zu beeinflussen, und wir werden schnell in schlechte Laune verfallen oder sogar in gute, doch langfristig gesehen wird nur die eigene Entscheidung bewirken können, ob wir uns gut oder schlecht fühlen. Ein Anfang zum sich gut Fühlen wäre gemacht durch die Entscheidung, sich gut zu fühlen. So leicht geht das nicht, wird man mir vorhalten. Und ich entgegne: Wieso nicht? Wieso soll es leichter sein zu entscheiden, sich schlecht zu fühlen? Ist es schwerer, sich gut zu fühlen? Warum? Ich habe ja die Wahl, innerhalb der, sagen wir mal, viertel Stunde, die uns zum Frühstück vielleicht nur zur Verfügung steht, meinen Morgenkaffee in innerer Ausgeglichenheit zu trinken oder aber ‚unter Stress’ in mich hineinzuschütten. Ich habe die Wahl, ob ich in dieser Zeit einen Marathon der Probleme in meinem Kopf ablaufen lasse oder ob ich ‚abschalte’ und fünfzehn Minuten in aller Ruhe dort sitze, den ersten Frühlingsvögeln zuhöre oder dem Gebrodel der Kaffeemaschine. Ich kann entscheiden, ob ich mich von Chefs oder Kunden hetzen lasse oder ob ich einfach in aller Ruhe eins nach dem anderen erledige. Dann entdecke ich vielleicht auch ein Geheimnis des All-Tags. Denn in Wahrheit ist der Alltag unser Meister. Er lehrt uns, hinzuhören, hinzuschauen, Entscheidungen zu treffen, auf unsere Intuition zu achten und vieles mehr. Und er lehrt uns, was geschieht, wenn wir dies nicht tun.
Jeden Morgen werden wir also mit einem All-Tag beschenkt, der uns das Leben lehrt. So gesehen sind wir also ziemlich reich. Alle. Und so gesehen wäre es gar nicht falsch, sich dafür zu bedanken. Indem wir uns dafür entscheiden, jeden dieser geschenkten All-Tage zu genießen. Wer ist dabei?
DIE GENERATIONEN UND IHR VERHÄLTNIS ZUEINANDER
Über dieses Thema kann man immer wieder neue Bücher schreiben. Als Kolumnistin versuche ich allerdings, die Bilder- und Gedankenflut in meinem Kopf auf zwei Seiten zusammenzuschmelzen, ohne, wie ich hoffe, verkürzt zu erscheinen.
Ich sah zum Beispiel neulich in einem BBC-Film eine Szene, die klar macht, wie die Alten den Jungen aufhelfen können, wenn diese die Orientierung verloren haben. Eine überschaubare Elefantenherde befand sich auf dem kräftezehrenden Weg zum nächsten Wasserloch. Mit dabei war eine Mutter mit ihrem ersten Jungen, einem kleinen süßen Elefantenbaby, dessen Beinchen vor Erschöpfung immer wieder wegsackten. Naturfilmerfahren wappnete ich mich, doch das Kleine starb nicht unterwegs, sondern erreichte mit der Großfamilie das Wasserloch. Dort wartete jedoch die nächste Katastrophe: es versank im Schlamm und kam allein nicht wieder heraus. Die unerfahrene Mutter versuchte, ihr Kind zu retten und drückte es dabei nur noch tiefer in den Abgrund. Endlich bemerkte die Großmutter das Dilemma, walzte majestätisch heran und schubste die Mutter mit einem rüden Stoß ihres mächtigen Hinterteils von dem Kind weg, das sich daraufhin mühelos selbst befreien konnte.
Diese Geschichte spricht für sich: die Jungen können von den Alten lernen. Lebenserfahrung kann lebensrettend sein, auch wenn sie unsanft vermittelt wird. Idealerweise wird Lebenserfahrung indes sanft vermittelt. Am besten durch das Vorleben dessen, was erlernt werden soll und uns nicht nur das Leben sichert, sondern auch die Liebe. Es geht um Herzensbildung und eben nicht nur um das reine Überleben. Eine liebevolle, weise Großmutter mit runzligen Apfelbäckchen, ein herzensguter, weiser Großvater mit schlohweißem Bart – das sind Archetypen, Märchenbilder, die jede Seele anrühren. Denn sie vermitteln das Ideal der Werteübermittlung der Alten an die Jungen. Weisheit und Liebe sind erwünscht.
Hier beginnen die Probleme. Es scheint wesentlich einfacher zu sein, den Nachfahren das Überleben beizubringen als die Kunst zu lieben. Denn wer selber nicht geliebt wurde, kann Liebe schlechter weitergeben als jener, der bedingungslos und aufgrund seines bloßen Daseins angenommen wurde. Würde diese einfache Tatsache von allen sofort gesehen werden, gäbe es vielleicht weniger Probleme. Doch dass er Probleme mit bedingungsloser Liebe hat, will sich keiner vorwerfen lassen. Also versuchen wir zu lieben, indem wir unsere Kinder erziehen, ihnen Wertmaßstäbe vermitteln, ihnen Vorträge halten über das Erstrebenswerte und das, was sie meiden sollten. Dies muss nicht, kann aber schlecht sein, es hängt ganz einfach davon ab, ob wir Sinnvolles oder Überkommenes weitergeben. Ob wir zum Beispiel Beständigkeit in jeder Lebenslage preisen und vermitteln und übersehen, dass wir längst starr und unbeweglich geworden sind, oder ob wir flexibel genug sind, immer neue Impulse zuzulassen, ohne die Entwicklung nicht möglich ist.
Schon dazu fällt mir eine Familiengeschichte ein. Sie handelt von dem Kampf eines Jungen gegen die Starre eines Alten. Mein Großvater Hermann wuchs im Mecklenburgischen auf. Er interessierte sich von Kindesbeinen an für Musik, stieß damit bei seinem Vater jedoch auf taube Ohren. Der Vater, ein Postillion, der gegen Ende seiner Runde stets so betrunken war, dass die Pferde den Weg allein zurückfinden mussten, war ein einfacher, praxisorientierter Mensch. Bach, Mozart, Beethoven, gar der neumodische Chopin? Was sollte man damit anfangen? Hermann beharrte. Nichts sehnlicher wünschte er sich als ein Klavier! Schließlich nahm der Vater kurzerhand ein Brett und bemalte es originalgetreu mit weißen und schwarzen Strichen. Das Brett wurde in Packpapier eingewickelt und dem halbwüchsigen Sohn am Geburtstagsmorgen überreicht. „Hier hast du dein Klavier“, raunzte der Vater. Der Sohn hatte schon gar kein Klavier mehr erwartet. Doch statt sich über die Härte des Vaters aufzuregen, nahm er das Brett und begann zu üben. Er besorgte sich Noten von überall her und rang sich neben der harten Schulausbildung täglich so viel Zeit wie möglich ab, um auf dem stummen Brett zu üben, wobei die Musik allein in seinem Kopf spielte.
Der Vater besah sich das Spektakel, brummte, schüttelte den Kopf, ließ den Sohn aber gewähren. Nach einem Jahr, wieder am Geburtstagsmorgen, nahm er seinen nunmehr achtzehnjährigen Sohn am Arm und führte ihn ins Haus des Bürgermeisters, der - welch großer Luxus - ein Klavier besaß. Unter den Blicken der Bürgermeisterfamilie musste Hermann nun auf dem Klavierschemel Platz nehmen. Er begann, all die Stücke zu spielen, die er inzwischen auswendig konnte. Die Zuhörer lauschten ergriffen, der Postillion ein wenig grimmig, denn er war – wie berichtet wird – extrem rechthaberisch. Doch auch er musste sich dem Zureden des hochverehrten Herrn Bürgermeisters beugen. Es wurde beschlossen, das Klavier dem musikbegeisterten Sohn für ein Jahr zur Verfügung zu stellen. Man transportierte es vorsichtig durch die Straßen und setzte es im Wohnzimmer der Postillionsfamilie ab.
Ein Jahr lang übte Hermann, informierte sich über die Grundlagen der Komposition und begann, eigene kleine Stücke zu schreiben. Nach dem Jahr im Paradies musste er das Klavier wieder abgeben. Kurz darauf wurde er dazu verdonnert, Pharmazie zu studieren. Er wurde Apotheker und begann zu sparen. Groschen wurde auf Groschen gelegt, und schließlich war es soweit: er konnte sich sein eigenes Klavier leisten!
War das Verhalten seines Vaters nun eher hinderlich oder eher förderlich? Ideal wäre natürlich seine Unterstützung gewesen, andererseits stählte der väterliche Widerstand den Willen des Sohnes, der sich ja letztendlich durchsetzte. Was natürlich gut war. Schlecht daran war nur, dass der Sohn dadurch so hart geworden war, dass er seinen Vater nachahmte und den Tyrannen bei den eigenen Kindern spielte. Den ältesten Sohn, der sich ihm häufig widersetzte, sperrte er in einen Kasten im dunklen Kohlenkeller oder prügelte ihn aus dem Hause des Mädchens, in das sich der Junge verliebt hatte.
Wann nützen und wann schaden wir unseren Kindern? Wir alle sollten überprüfen, wie viel Raum wir ihnen bei ihrer Entwicklung geben. Wie wir selber brauchen auch sie eine gute Mischung aus Vorbild, Belehrung und Freiheit, das Leben und seine vielfältigen Möglichkeiten selber auszuprobieren; samt der Irrwege, die dabei vorkommen können und vielleicht auch müssen. Wir brauchen ein gutes Gespür dafür, wann welches Verhalten am sinnvollsten ist. Dabei hat es sich erweisen, dass wir uns am besten vom Herzen leiten lassen, dass immer recht behält, auch wenn wir das manchmal erst nachher erkennen.
Es ist aber auf jeden Fall auch wichtig zu wissen, dass wir als Eltern ebenso wenig perfekt sein können wie unsere Eltern oder unsere Kinder. Die Fehlerhaftigkeit liegt im System – wir Menschen sind komplizierte, kapriziöse Wesen, zu allem fähig, zum Guten wie zum Bösen. Es ist schlichtweg unmöglich, fehlerlos zu erziehen, ohne fehlerlos zu sein. Und wer ist schon fehlerlos? Und wäre uns das Fehlerlossein nicht in Wahrheit unheimlich? Würde es uns vielleicht sogar langweilen? Das ist die „Conditio humana“, die Bedingung des Menschseins und die der Natur des Menschen. Man kann über sie philosophieren, man kann sie beklagen oder genießen – wichtig allein ist es, dass wir unseren Kindern das Wissen um diese „Conditio“ vermitteln. Und ihnen den Ausweg zeigen aus dem letztendlich nutzlosen Sinnieren, ob man immer das „Richtige“ oder „Falsche“ tut. Wie hieß dieser Ausweg noch? Vorbild und Liebe. Das wäre trotz aller Fehlerhaftigkeit perfekt.
Die Chinesen sind da etwas anders gelagert. Sie haben das Sprichwort geprägt: „Möchtest du, dass deine Kinder ihr Leben in Ruhe genießen, so lass sie immer ein wenig hungrig sein und ein wenig Kälte fühlen.“ Die augenblicklich berühmt-berüchtigte amerikanisch-chinesische Tigermutter, die ihrer Tochter droht, alle Kuscheltiere zu verbrennen, wenn das Mädchen nicht drei Stunden täglich Klavier übt - praktisch der Gegenpol zu meinem Urgroßvater - hilft uns dabei, unser eigenes Maß zu finden. Die meisten von uns würden auf Methoden dieser Art verzichten. Wer es nicht tut, darf sich überprüfen.
Filme ab 18
Es ist schon viel geäußert worden zum Thema „Gewalt in den Medien“. Im Gespräch mit Achtzehnjährigen wurde mir zum Thema „Filme ab 18“ gesagt: „Haben wir alle schon vor einer ganzen Weile gesehen.“ Aha. Die Mädchen sagten mir: „Da muss man eben durch.“ Und die Jungs empörten und wehrten sich regelrecht: „Nur, weil da Gewalt vorkommt, werden wir doch nicht automatisch zu Gewaltverbrechern.“
Wie kommen eigentlich alle darauf, die Kennzeichnung eines Films ab 18 sofort mit Gewalt zu verbinden? Geht es nicht vielmehr um Inhalte, die zu komplex und deswegen schwer verständlich oder uninteressant für Jugendliche wären? Nein. Ab 18 bedeutet fast immer die Konfrontation mit dem Bösen. Der Erwachsene, der ermächtigt ist, sich den Film anzusehen, muss sich auf Mord und Totschlag einstellen, auf prügelnde Muskelbewehrte, auf wimmernde Opfer, auf Vergewaltigung und Zerstückelung. Diese Konfrontation mit dem Äußersten, der lustvollen Vernichtung des Lebens, der Verletzung eben jenes Körpers, der uns doch auf Schritt und Tritt durch den Selbsterhaltungstrieb daran erinnert, dass er geschützt werden möchte, wird von „Erwachsenen“ ersonnen und in die Form eines Films gegossen. Warum?
Die Erfahrung des Bösen beginnt nicht erst mit 18, sondern stellt eine Grunderfahrung des Menschen seit seiner Geburt dar. Der lichte Geist vermählt sich mit der ‚dunklen’ Materie, dem Körper, der ohne uns als Bewohner keine Überlebenschance hätte. Verlassen wir ihn, bleibt er bewegungslos zurück und zerfällt. Sobald wir im Körper leben, unterstehen wir der Zweipoligkeit. Fortan hat alles zwei Seiten, Gegensätze bestimmen unser Leben, unter anderem und vor allem der Gegensatz: gut – böse.
Schon als Baby wird uns suggeriert, nicht böse, sondern gut, sprich „brav“ zu sein, und wir verstehen recht genau, was damit gemeint ist. Und ebenso kalkuliert, wie wir als Kleinkind dann „brav“ sind, um gelobt und geliebt zu werden, provozieren wir immer wieder neu die Konfrontation dadurch, dass wir nicht brav sind. Die Überschreitung der Grenzen, die das Gewissen vorgibt, wird regelrecht freudig erfahren. Beobachtet man Kinder, denen bei einem ihrer Vorhaben gesagt wird: „Nein, nein, das darfst du nicht tun!“, so begegnet man nicht selten diesem Glitzern in den Augen, dem Ausdruck des Mutwillens, Spiegel der Verlockung, es eben doch zu tun, die Grenze zu überschreiten, sich in Widerspruch zu setzen, die verbotene Frucht zu kosten. Diese Lust, Verbotenes zu tun, ist gekoppelt mit dem unbändigen Wissensdurst des Menschen.
„Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baume der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn wenn du davon isst, wirst du sterben.“ Diese Ankündigung, ja, Drohung des „lieben“ Gottes bewirkt in schrecklich vorhersehbarer Konsequenz die Verführung durch die Schlange, Verkörperung des Bösen. Wieso? Ich frage jetzt nicht: „Warum sollen wir nicht ungestraft alles wissen dürfen?“ Sondern: „Wieso existiert die Schlange, wieso die Möglichkeit der Verführung? Wieso beinhaltet der liebe Gott den bösen Gott? Warum gibt es den Satan, das unaussprechlich Böse, Dunkle, Mitleidlose im Gegensatz zur hell strahlenden Liebe?“
Im Grunde gehen all diese Filme ab 18 immer wieder neu dieser Frage nach. Indem sie das Tabu brechen und uns konfrontieren mit all dem, was wir nicht sollen. „Nein, nein, das darfst du nicht tun.“ Doch, das darf man. Der Mensch darf böse sein. Er darf in diesem Zusammenhang auch Filme drehen, in denen das Schrecklichste passiert. Und er tut es. Selbst ein in allen Wissenschaften ausgebildeter Dr. Faust schließt den Pakt mit dem Teufel. Gerade weil er alles schon ausgelotet hat, alles, bis auf das Verbotene, wirklich Böse. Das Böse, das über Lügen und Stehlen weit hinausgeht. Das Böse, das sich in Goethes erstaunlich und erschreckend moderner Dichtung definiert durch die Beschmutzung des Reinen in der Verkörperung Gretchens. Zu Goethes Zeiten gab es noch keine Gewaltfilme, keine gesellschaftlich geduldeten visuellen Abhandlungen über mutwillige Körperverletzungen, spritzendes Blut, das dem Fausthieb folgt, hart aufschlagendes Blut, das durch die ungeheure Präsenz der Kombination von Bild und Ton die Existenz und Machbarkeit des Guten in Frage stellt. Schon immer gab es die Verbrechen, Foltermorde, Vergewaltigungen, aber es gab sie nicht in dieser visuellen Verfügbarkeit. Trotzdem müssen wir uns kollektiv dieser Tatsache stellen: Es gab Völkermorde, Massenentführungen, Vertreibungen, Vergewaltigungen, Folterungen schon immer. Und schon immer gab es die Reaktion auf die Ausschweifungen und Verfehlungen gegen das Gewissen, das den Menschen eingepflanzt wurde und ihnen unfehlbar die Rückmeldung zukommen ließ: „Du verstößt gegen die Liebe, gegen die Menschlichkeit.“ Die Reaktionen waren meistens ebenso heftig wie die Ausschweifungen, es gab Revolutionen und vermeintliche Säuberungen, die keine Reinheit nach sich zogen. Eine ewige Wirrnis. Gut gegen Böse, die Verstrickung der Guten in das Böse, obwohl sie doch das Gute wollten - eine endlose Geschichte, weil wir eben beides in uns tragen.
Man könnte jetzt sagen: „Wenn das so ist, ist doch eh’ alles egal.“ Aber das Schöpfungsgeheimnis beinhaltet eben auch noch dieses andere, Wichtige, Wunderbare, nämlich das Streben nach Licht und Erlösung. Denn uns eingepflanzt ist neben dem Gewissen auch ein Überdruss am Bösen. Selbst der Mensch, der sich entschieden hat, alle Tabus zu brechen, alle Orgien zu „feiern“ und all das Böse, das er in sich vorfand, zu tun, wird schließlich von einer tiefen Melancholie befallen, einem Selbstekel zusammen mit dem intensiven Wunsch nach Licht und Liebe. Wenn man genauer hinschaut ist oft der Dunkelste gleichzeitig der Hellste. Es kennzeichnet unser Menschsein, dass wir die Wahl haben, gut oder böse zu sein oder uns irgendwo dazwischen einzuordnen. Wer nur gut sein will, ohne sich geläutert zu haben, läuft Gefahr, den dunklen Anteil in sich derart zu verdrängen, dass er immer größer und mächtiger wird und den Menschen dazu antreibt, etwas großes Böses oder viele kleine Boshaftigkeiten zu verüben. Mit „vielen kleinen Boshaftigkeiten“ sind zum Beispiel gemeint: Neid, verächtliche Gedanken und Bemerkungen, Manipulationen, Schuldzuweisungen, Scheinheiligkeit usw. Selbst wenn dies unbewusst und ungewollt geschieht, zeigt es bei den Mitmenschen seine zerstörerische Wirkung. Nur wer die Tatsache vollkommen anerkennt, dass er auch Schatten in sich trägt, die Möglichkeit zur Dunkelheit, kann einen reifen Entschluss treffen, nämlich die Umwandlung der dunklen Impulse in Licht. Der geläuterte Mensch, der seine Entscheidung zum Guten bewusst erneuert hat, ist ein wahrhaft freier Mensch. Er findet keine Boshaftigkeiten mehr in sich. Und ebenso wenig das große Böse.
Wie können wir uns läutern? Wo ist die Leitlinie, wo der Weg? Wir können es schaffen, indem wir uns überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. Und indem wir unbeirrbar lieben. Wie man liebt? Jeder weiß es, jeder erkennt Liebe, jeder kann lieben. Es gibt keine gültige Entschuldigung, es nicht zu tun. Selbst wer nichts bekommen hat, kann doch geben. So schlimm etwas gewesen ist, so einsam man auch war in der Dunkelheit, so schön ist es doch, aus eigenem Impuls heimzukehren in den Schoß der Liebe.
Wer also noch keine Filme ab 18 gesehen hat, kann sich darauf einstellen: hier gibt es Motivation im Übermaß, das genaue Gegenteil dessen zu leben, was auf der Leinwand vorgeführt wird. Das ist in Wahrheit die wunderbare Botschaft der Filme ab 18: Wir dürfen zwar böse sein und alle Tabus brechen, wir dürfen aber auch richtig gut sein und unsere Mitmenschen lieben und respektieren! Und im Grunde unseres Herzens wollen wir es alle – das gesamte Kollektiv Menschheit. Und noch etwas richtig Gutes zum Schluss: Wenn wir doch eigentlich schon wissen, worum es geht, müssen wir uns diese Filme gar nicht erst anschauen. Sie repräsentieren dann nicht mehr Gewalt, sondern die perfekte Zeitersparnis!